Mariam erwachte … oder nein … sie erwachte nicht. Sie hatte nicht geschlafen, da war sie sich sicher! Sie durfte nämlich nicht schlafen, egal wie müde sie war. Sie musste nämlich … sie hatte durch die dreckigen Glasscheiben des Fensters nach draußen gespähnt, hatte den Wolken zugesehen, wie sie über den Himmel gepeitscht wurden, von einem teilnahmslosen Wind, der nichts kannte als die Parole weiter, immer weiter! Kein Ziel. Dem Wind ging es nur um das hier und jetzt. Wie oft hatte sich Mariam ganz ähnlich gefühlt, in den letzten Jahren? Wie oft hatte für Rolf und sie gegolten egal wie, hauptsache, wir überleben?
Das war jetzt anders. Jetzt, wo sie einen Sohn hatte. Oder, besser gesagt: Es musste anders werden. Sie konnten unmöglich so weiterleben wie bisher. Nicht, so lange das Baby so klein und verletzlich war. Schluss mit der ziellosen Herumtreiberei.
Sie sah auf ihn herab.
Ihr Sohn. Ihr Kind.
So winzig.
Noch war er ruhig, aber seine Augen waren offen und er würde sicher nicht meht lange so ruhig bleiben. Er ließ seinen Blick neugierig hierhin und dorthin wandern, so schien es, aber er kehrte wie von selbst immer wieder zu Mariams Gesicht zurück. Der kleine, zahnlose Mund öffente und schloß sich. Irgendwie wirkte er mürrisch. Wahrscheinlich, weil ihm durch Mariams wenige, schmerzlahme Bewegungen Wärme entzogen worden war.
Bald würde er wieder hungrig sein und sie würde ihn dann an ihre andere Brust legen, damit er trinken konnte. Dieser süße Schmerz musste verteilt werden, damit nichts wund wurde oder sich entzünden konnte, das hatte Mariam auf ihren Reisen mit Rolf immer wieder bei anderen Müttern beobachten können und mit einigen auch draüber gesprochen.
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Mit ihrem Zeigefinger streichelte Mariam sanft den rechten Mundwinkel des Kleinen, um ihn zum Lächeln zu bringen. Es funktionierte. Aber nur ganz kurz.
Dann veränderte sich das kleine Gesicht von einer auf die andere Sekunde. Die niedlich Zornesfalte war wieder da und er begann zu schreien.
„Schhhh, schhhhh! Alles ist gut. Du kriegst ja gleich was …“
Mariam legte ihn an die andere Brust und er wurde wieder ruhig und trank. Aber es war zu spät. Die Wölfe draußen vor der Hütte hatten ihn gehört und verstärkten ihr langezogenes, hungriges Heulen.
Gut so, heult ruhig. Dann weiß ich wenigstens, wo ihr seid, dachte Mariam, der die letzte Attacke auf die Tür der Hütte noch in den Knochen steckte. Sie hatte noch immer Angst vor den Tieren, vorallem vor ihrem merkwürdigen Verhalten und dem großen Weibchen, und sie wünschte sich noch immer, dass Rolf bei ihr wäre. Aber es war nicht mehr so schlimm wie vor der Geburt. Trotz all der Schmerzen, all der Angst und all der Anstrengung und obwohl sie am Ende ihrer Kräfte sein musste – und es vermutlich auch war – fühlte Mariam, dass ihr Geist sich ein wenig erholt hatte.
Sie wiederstand dem plötzlichen Drang, ihren Sohn fest an sich pressen, ließ ihm Raum. Er trank jetzt nicht mehr, aber seine Lippen umschlossen noch immer die Spitze ihrer Brust. Das hatte sein Vater auch gerne getan. Mariam traten die Tränen in die Augen.
Sie blinzelte sie weg, wollte sie nicht.
Weiter, immer weiter. Was auch sonst?
So behutsam sie konnte, legte sie ihn auf das Bett zurück und deckte ihn zu. Natürlich passte ihm das nicht, aber das war abzusehen gewesen. Sein ärgerliches Weinen traf Mariam dennoch tief in ihrer Seele, ohne dass sie es verhindern konnte. Einige Minuten lang weinte sie mit ihm.
– Unlektorierte Erstversion
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