Das Tier machte nicht den Eindruck, als ob es in den nächsten Sekunden zum Angriff übergehen würde. Allerdings machte es auch nicht den Eindruck, als würde es das nicht tun. Mariam fühlte sich außerstande eine Vorhersage zu machen. Dennoch wagte sie es, den Blick von der unheimlichen Bedrohung dort draußen abzuwenden, wenn auch nur für einen kurzen Moment
Schnell sah sie sich in der Hütte um, überlegte, wie sie für den Fall eines Fehlschuss vorsorgen konnte. Auf der anderen Seite der Hütte gab es zwei hüfthohe Schränkchen, jenseits des Ofens, in dem noch immer Holz brannte. Die Wärme, die vom Ofen ausging hatte in diesem Moment jedoch nichts Tröstliches für Mariam. Eines der Schränkchen, das konnte sie im Dämmerlicht sehen, hatte verschließbare Türen. Außen steckte ein Schlüssel in einem Schloss am rechten der beiden Türchen.
Sie ging es in Gedanken durch, wie sie zu erst eine warme, weiche Decke vom Bett mitnahm und dann das Schränkchen öffnete. Mit raschen Bewegungen würde sie alles, was sich noch darin befinden mochte, herausfegen und auf dem Boden der Hütte verteilen. Dann würde sie die Decke im Schränkchen platzieren. Danach zurück zum Bett und ihr Kind holen und wieder zurück zum Schränkchen. Tür zu. Schlüssel umdrehen. Schlüssel einstecken. Erst jetzt wurde sie sich bewusst, dass sie noch immer nackt war. Egal. Zurück zum Fenster und zurück zur Flinte. Dann hoffen, dass …
Mariam schreckte aus ihren Gedanken, als in der alten Decke der Hütte Holz knirschte und knackte.
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Sofort eilte sie zum Bett und zum Fenster, um zu sehen, ob die Wölfin noch an Ort und Stelle saß. Das tat sie. Sie war nicht auf dem Dach und Mariam atmete durch. Das Knacken war wohl ganz normal gewesen und deutete nicht auf eine neuerliche Gefahr hin. Nein, vorhin, als einer der anderen Wölfe aus dem Rudel auf dem Dach gewesen war, hatte es sich anders angehört. Ganz anders sogar, und Mariam ärgerte sich für den Bruchteil einer Sekunde über sich selbst, weil sie es nicht gleich bemerkt hatte.
Trotzdem war es gut gewesen, dass sie aus dem Fenster gesehen hatte. Die Wölfin war noch da draußen, ja. Sie saß auch immer noch in der exakt gleichen Körperhaltung da. Auch das. Aber jetzt konnte Mariam nicht leugnen, dass sie erneut näher gekommen war. Das furchterregende Vieh war jetzt vielleicht noch acht oder neun Meter entfernt.
Du willst mich doch verarschen …
Spätestens jetzt hatte Mariam die Gewissheit, dass die Wölfin dort draußen absichtsvoll handelte. Intelligent. Mit Kalkül. Nicht, dass sie das nicht schon vorher gewusst hätte, ganz tief drinnen. Aber jetzt konnte sie dies auch mit ihrem Verstand erfassen, konnte sich nicht mehr sagen, dass sie nur überreagierte und durch die Strapazen der Geburt vorübergehend ein wenig wahnsinnig geworden war. Und überhaupt, wo waren die anderen Tiere des Rudels abgeblieben? Brauchten sie wirklich so lange, um den in Ungnade gefallenen Artgenossen zu jagen?
Tief in ihrem Inneren wusste Mariam auch, dass der Gedankenbefehl, den die Alpha-Wölfin erteilt hatte, ein Tötungsbefehl gewesen war, dass es nicht darum gegangen war, das in ungnade gefallene Tier nur zur verjagen.
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